Mir geht’s in letzter Zeit sehr anstrengend. Und ich wusste nicht, warum. Aber ich wusste, dass ich schwer erträglich bin. Für mein Umfeld vermutlich, aber ebenso für mich. Nur kann ich nicht weggehen. Ich kann mich nicht stehen lassen, wenn ich übellaunig bin, wie die anderen es könnten, es aber nicht tun, was ich nicht nachvollziehen kann. Denn wäre ich nicht ich, sondern sie oder vielleicht sogar Du, wäre ich schon lange fort. Ja. Meine Gesellschaft ist zurzeit nicht sehr erquicklich.
Man könnte auch sagen, das Ninakostüm über der Borderlinerin ist gerade ziemlich dünn. Eher eine hauchzarte Membran, die bei der kleinsten Reizung aufreißt. Dabei dachte ich Ende letzten Jahres noch, ich hätte gar kein Borderline mehr. Versteht mich nicht falsch; wir alle haben lebenslänglich. Aber die Ausprägungen fühlten sich mittlerweile derart schwach an, dass ich davon ausging, fünf von neun Kriterien (nach DSM V) nicht mehr zu erfüllen. Borderline wächst sich im Alter aus, so sagt man doch. Was auf mich leider nicht zutrifft. Ich hatte weiter volle Punktzahl. Und seit ein paar Wochen fühlt es sich auch noch so an.
Ich bin wütend. Ständig wütend. Auf alles. Ohne Grund. Und gibt es einen Grund oder vielmehr einen Anlass, denn für neurotypische Menschen wäre dieser Anlass mit Sicherheit kein Grund, rege ich mich auf. Und werde ziemlich unfreundlich. Und umso näher mir ein Mensch steht, umso mehr kriegt er es ab. Das ist gleichwohl paradox wie logisch. Denn ist mir die Person lediglich entfernt bekannt, will ich mir nicht die Blöße geben und schaffe es – oft leider auch mehr schlecht als recht – mich irgendwie zusammenzureißen. Für meine Freundinnen und Freunde ist das natürlich doof, denn die haben nichts davon. Und mir tut alles furchtbar leid und ich bitte dementsprechend ständig um Verzeihung.
Aber man macht auch positive Erfahrungen. Erstaunlicherweise. Wenn man ungefiltert alles rauslässt und nichts mehr hinunterschluckt. Meine Kolleginnen versicherten mir zumindest, dass eine bestimmte Person solche sexistischen Witze wahrscheinlich niemals mehr erzählen wird – auch wenn mir die Heftigkeit meines verbalen Ausbruchs hinterher sehr peinlich war und ich mich geschämt habe. Wie ich es seit ein paar Wochen ständig tue, weil ich meine Gefühle nicht im Griff habe. Mich dauernd wie ein Monster verhalte und mich daher wie ein Monster fühle und anfange zu glauben, ein Monster zu sein. Und es wird konstant schlimmer wird und ich wusste nicht, warum. Bis zur letzten Woche. Da hatte ich plötzlich die Idee.
Ich wollte in diesem Jahr endlich frei sein. Frei von Drogen. Frei von Alkohol. Und auch frei von Nikotin. Deshalb hatte ich vor zehn Wochen – zu allem anderen – auch noch mit Rauchen aufgehört. Das war die ersten Tage schwierig, doch schien es im Gröbsten bald vorbei. Das dachte ich wenigstens, denn ich dachte nicht ans Rauchen, nicht so, dass ich es tun wollte. Deshalb brauchte ich eine Weile, um einen Zusammenhang zu sehen zwischen dem neuen Ninamonster, was seit Wochen alle peinigt, und dem Nikotinentzug.
Ok. Vielleicht gibt es den auch gar nicht, diesen Zusammenhang. Aber ich bin seitdem zutiefst erleichtert, eine Ursache für mein Verhalten zu haben. Eine externe Ursache, die bedeutet, dass ich nicht zunehmend freidrehe und dauerhaft zum Monster werde. Denn wenn es gerade derart schlimm ist, ist der Höhepunkt vielleicht erreicht, so dass es danach besser wird. Das ist zumindest meine Hoffnung. Zumal die nächste Stufe bedeuten würde, dass ich fremde Menschen auf der Straße angreife. Und das will ich nun wirklich nicht. Nein.
Ich wollte in diesem Jahr frei sein. Frei von Drogen. Frei von Alkohol. Und frei von Nikotin. Aber ich merke, dass etwas nicht mehr zu nehmen, noch lange nicht heißt, frei davon zu sein. Das ist nur der erste Schritt. Wirklich frei zu sein bedeutet, nicht mehr ständig daran zu denken und dabei das Gefühl zu haben, etwas zu entbehren. Und bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Bei allem. Aber den ersten Schritt hab‘ ich gemacht.