Ich bin hier im gleichen Programm wie in der Hamburger Klinik. Das nennt sich DBT-S.
DBT steht für Dialektisch-Behaviorale Therapie. Sie wurde von der Amerikanerin Marsha M. Linehan entwickelt und gilt als das am besten untersuchte und erfolgreichste Therapieprogramm bei emotional-instabilen Persönlichkeiten. Der dialektische Ansatz dieser speziellen Verhaltenstherapie zielt darauf ab, das vorherrschende Schwarz-Weiß-Denken von Borderliner aufzulösen und schrittweise alternative Sichtweisen und Handlungsstrategien zu etablieren.
Und das S? Ja, das S steht für Sucht. Denn emotional-instabile Menschen wie ich haben Probleme, mit ihren Gefühlen umzugehen und sind davon oft überfordert. Also, ich bin zumindest ziemlich oft überfordert. Und um diese emotionale Überforderung zu bewältigen, nehmen emotional-instabile Menschen wie ich häufig Drogen oder Alkohol. Das kann von gesundheitsschädlichem Missbrauch bis hin zur Abhängigkeit reichen. Und weil das so oft zusammen vorkommt, wurde das DBT-S-Programm entwickelt. Für Menschen wie mich. Borderliner mit Suchtmittelmissbrauch oder Abhängigkeitsproblematik. Das Programm gibt es allerdings nur an drei Orten in Deutschland. In Hamburg, in Offenbach und eben hier. Und auch wenn das Programm das Gleiche ist, gibt es deutliche Unterschiede in der lokalen Umsetzung.
In Hamburg verbringt man die zwölf Wochen stationär. Man isst zusammen. Gemeinsame Mahlzeiten sind Pflicht. Und es gibt sehr viele Regeln, an die man sich zu halten hat: Bettruhe, bei der man das Zimmer nicht verlassen und auch nicht raus zum Rauchen darf. Anwesenheits- und Ausgangszeiten, die strengstens einzuhalten sind. Sonntägliches Wiegen am Morgen und Alkoholkontrolle am Abend. Für alle. Zusammen. Jeden Sonntag. Wie der Tatort. Eins von vielen Rituale, die man fast liebgewinnen kann. Ja. So war das in Hamburg.
Und hier? Hier gibt es auch Regeln und Strukturen. Doch damit nimmt man es nicht ganz genau. Zumindest habe ich nicht viel davon gemerkt. Ich konnte kommen und gehen, wann ich will und wie ich es möchte. Niemand hat je nachgefragt. Nur die Therapie darf man nicht versäumen, von der sehr viel nicht einmal Pflicht ist. Auch Mahlzeiten sind freiwillig, was bei der Qualität des Essens sonst auch nicht zumutbar gewesen wäre. Eher Menschenrechtsverletzung. Das war in Hamburg deutlich besser. Nur weiß ich das erst jetzt zu schätzen. Doch der zentrale Unterschied: Man bleibt hier nicht stationär. Die Behandlung soll möglichst schnell in tagesklinischer Form erfolgen.
Das hat Vor- und das hat Nachteile.
Der Vorteil ist, dass man nicht in der „Käseglocke“ lebt. Nicht dem Alltag aus dem Weg geht, sondern parallel zum Therapieprogramm möglichst viel zu Hause ist. Sowie jedes Wochenende. Die Herausforderungen des individuellen Lebens in die Behandlung einbringt und damit nicht plötzlich konfrontiert ist, wenn man nach langer Zeit zurückkommt. Was zur Überforderung führt und dann meist zu Rückfällen. Rückfälle in alte Verhaltensweisen. Oder zu Alkohol und Drogen.
Doch der Nachteil daran ist: Man ist nicht in der Käseglocke. Kein geschützter Raum, keine Parallelwelt, in der man vom Alltag Abstand nimmt. Das Leben draußen einfach ausblendet. Man fast nichts tun kann und sich um wenig kümmern muss. Außer um sich selbst. Und den Erfolg der Therapie. Zwangsruhiggestellt. Zwangsfokussiert. Das fand ich eigentlich ganz gut. Und für mich auch ziemlich hilfreich. Weil ich nicht funktionieren muss. Es mir nur so erlauben kann.
Drum war ich schon etwas enttäuscht als man mich gleich zu Anfang fragte, wie lange ich denn bleiben wolle. Stationär. Und wann ich denn jetzt wechseln würde. In die Tagesklinik. Und überhaupt. Ob das für mich so richtig sei mit einer stationären Behandlung. Ich wirke ja sehr strukturiert. Organisiert. Und zudem noch recht vernünftig. Wobei der Eindruck nicht mal falsch ist. Tagsüber kann ich absolut und überaus vernünftig sein. Mein Problem liegt eher abends. Wenn meine Gefühle kommen und die Vernunft mit dem Sonnenlicht verschwindet. Und ich so Ideen kriege. Der Sorte dysfunktional, leichtsinnig und ungesund. Daher brauche ich keine Tagesklinik, so sagte ich. Ich bräuchte eher eine Nachtklinik. So wie im offenen Vollzug: „Der Gefangene verlässt morgens die Haftanstalt und begibt sich zu seinem Arbeitsplatz. Nach Beendigung der Arbeit kehrt er unverzüglich in die Anstalt zurück und bleibt dort bis zum nächsten Morgen (…). In der Anstalt kann der Gefangene an den (…) Behandlungsmaßnahmen teilnehmen. (…) Der Gefangene hat sich strikt an die vorgegebenen Regeln zu halten. Alkoholkonsum oder eine verspätete Rückkehr können schnell dazu führen, dass ein Gefangener in den geschlossenen Vollzug verlegt wird.“
Ja. Ok. Ok. So guckten die mich auch an. Und mir war schon selber klar, dass das keine Lösung ist. Und man sowas nicht wollen kann. Nicht wollen sollte. Längerfristig. Es sei denn man ist Masochist und zudem noch wenig freiheitsliebend. Was jetzt beides nicht sehr zutrifft. Daher appellierten sie an mich und an meine Selbstverantwortung. Die ich übernehmen soll, anstatt sie an sie abzugeben. Und das sah ich dann auch ein und zog am Freitag grummelnd aus. Nach Hause. In ein langes Wochenende und das auch noch über Silvester. Doch das lief erstaunlich gut. Mit mir und meiner Selbstverantwortung. Trotz Party, Tanz und Möglichkeiten der Sorte dysfunktional, leichtsinnig und ungesund. Die ich, vernünftig wie ich nunmehr bin, wahrnahm, aber ignorierte. So ging ihr Konzept schon auf. Trotzdem wäre ich lieber dort. In der kleinen Käseglockeit mit den anderen Verrückten. Weit entfernt von meinem Alltag und etwas näher bei mir selbst.