Ich mag Menschen. Ich mag Menschen sogar sehr. Ich kann sie nur nicht so gut um mich haben. Zumindest nicht immer und die ganze Zeit. Oder wie ich schon mal schrieb: Gesellschaft zu brauchen und nur bedingt ertragen zu können, ist eine der fieseren Paradoxien meiner Persönlichkeitsstruktur. Daher mag ich soziale Medien ebenfalls sehr. Man hat Menschen um sich rum, aber auf sichere Distanz. Man kann zusehen, wie sie diskutieren, flirten, streiten oder scherzen. Das ganze Spektrum menschlicher Verhaltensweisen bildet sich auf ihnen ab. Und man kann sich einbringen oder es lassen. Alles kann, nichts muss. Ein digitaler Swingerclub. Nur für Kommunikation. Doch das Beste daran ist: Man ist immer in Gesellschaft und trotzdem stets für sich allein. Und was sonst schon extrem praktisch war, wird gerade essentiell. Denn als Einpersonenhaushalt ist man nun dauerhaft allein. Was nach einer gewissen Zeit sogar für mich nicht allzu schön ist. Nur Kontakt zur Kernfamilie ist gerade noch erlaubt. Nur bin ich selbst die Kernfamilie. Und trotz diverser Streitigkeiten, die kommen auch in den Besten vor, wird das irgendwann mal fad. So verbringe noch mehr Zeit mit mir halbwegs fremden Menschen in eben diesem Internet. Bei Twitter, um genau zu sein. Das ist das Medium meiner Wahl. Doch das hat auch seine Tücken. Ich meine nicht die rechten Trolle, Shitstorms oder Mansplainer, die einem dort dauerhaft begegnen. Nicht die Besserwissser, Selbstdarsteller oder Hater. Nein. Ich meine etwas anderes. Lasst mich das kurz illustrieren:
@pixieapfelbaum, 19. März: „Ich am Anfang der Iso „Oh man ich werde SO auf meinen Körper achten und die Zeit dafür nutzen richtig zu entgiften und Sport zu machen“ Ich nach 4 Tagen „Schon neun Uhr wie schmeckt wohl Gin im Kaffee?““
@FJ_Murau, 21. März: „Quarantäne-Daydrinking: Bund- oder Ländersache? Oder einfach nur grobe Richtlinien vom RKI?“
@bergdame 21. März: „Warum steht eigentlich auf keiner dieser Notfall-Vorratslisten „viel Wodka“ an oberster Stelle? Da stimmt doch was nicht.“
@wortgucker, 23. März: „Aber was machen wir, wenn das Bier alle ist?“
@FabienneHurst , 24. März: „Ab wie vielen Tagen self isolation macht ihr euch genau so viele Sorgen um eure Leber wie um eure Lunge?“
@Steonato, 25. März: „Wenn man in „Homeoffice“ nur acht Buchstaben verändert, steht da „Gin-Tonic“.“
@frank_opitz, 27. März „Spült ihr das Weinglas eigentlich zwischendurch mal oder zieht ihr durch?“
Ja. Das Internet ist ein Spiegel der Gesellschaft. Und Alkohol gehört in unserer Gesellschaft normativ dazu. In dieser Situation erst recht, wie es scheint. Und, nein. Die Zitierten sind keine Drogis, Druffis oder irgendwelche prekären gesellschaftlichen Randgruppen. Das sind Journalistinnen, Wissenschaftler, Autorinnen und Kulturschaffende. Also, nicht gerade der schlechte Umgang, vor dem mich meine Eltern immer gewarnt haben. Aber Alkoholkonsum ist ohnehin bei Akademikerinnen und Akademikern überdurchschnittlich hoch und gehört in ihrem Selbstverständnis zum „guten Lebensstil“ dazu. Trotzdem. Solche Tweets zu lesen, das macht etwas mit mir. Und zwar auf verschiedenen Ebenen.
Ich mache mir Sorgen um die Leute. Wenn sie nur annähernd so viel trinken wie sie schreiben, haben sie bald ein Problem. Ein Problem, das ich gut kenne. Und wer Anhänglichkeit doof findet, wird Sucht auch nicht sehr zu schätzen wissen. Die wird man nämlich niemals los. Wirklich nicht. Das leitet mich zum nächsten über: Derlei Botschaften triggern mich gewaltig. Man muss sich das so vorstellen: Man ist zu Hause eingesperrt. Wochenlang. Ohne menschlichen Kontakt. Berufliche Beziehungen sind auf Mails, Telefonate und Videokonferenzen reduziert. Kurz: Würde ich die perfekte Situation für einen Rückfall konstruieren wollen, sie würde wohl exakt so aussehen. Keiner sieht es. Keiner kriegt es mit. Ich habe keine Verpflichtungen und muss niemanden Rechenschaft ablegen. Das ist verführerisch. Hinzu kommt noch die Einsamkeit. Gegen die hat Alkohol mir immer gut geholfen. Ja. Abstinenz fiel mir schon leichter. Was mir aber hilft, ist eben nicht allein zu sein. Schließlich gibt es nicht nur fremde Menschen im Internet, sondern Freundinnen und Freunde, viele Telefonate und lange Abende auf Skype. Und ich wünsche allen, dass sie ebenso viel Unterstützung haben. Denn auch mit diesen Schwierigkeiten bin ich sicher nicht allein.